30 August 2006

Fragen zum "Störgeräusch"

Du entwickelst dich im neuen Roman zusehends zu einem sehr genauen Analytiker von Beziehungsverflechtungen: was fasziniert dich an komplizierten Beziehungssituationen?

Familie ist ein spannendes Beziehungsfeld. Nirgendwo sonst gibt es soviel Nähe und Vertrautheit, aber zugleich auch Fremdheit und Distanz. In „Störgeräusch“ sind die beiden Protagonisten durch den Tod der Mutter gezwungen, ihre Rolle im familiären Gefüge neu zu definieren. Damit tun sich beide schwer.
Andererseits treten nach der erschütternden Erfahrung des Verlusts eruptiv Sehnsüchte und Obsessionen an die Oberfläche, die vorher unter dem Schutt eines angepassten oder von Notwendigkeiten geregelten Lebens verborgen geblieben waren.
Die Situationen, die ich schildere, sind alltäglich und doch versuche ich sie zuzuspitzen, um dem Geschehen eine gewisse Intensität zu geben, um den Text mit Spannung aufzuladen. Worauf es mir ankommt, ist das Geflecht. Auf dasselbe Geschehen werfen verschiedene Figuren einen unterschiedlichen Blick, sie deuten die Ereignisse jeweils anders, denn ihre Optik ist begrenzt. Doch auch die Anschauungen der einzelnen Figuren verändern sich im Laufe des Romans. Mich interessieren die Bruchlinien, die Widersprüche und Zögerlichkeiten meiner Figuren, natürlich geht dies auf Kosten einer temporeichen äußeren Handlung.

Man hat den Eindruck, dass hinter deinen bisherigen Veröffentlichungen jeweils biografische Schreibanlässe stehen. Insofern sehe ich – auch literarisch – eine Kette fortlaufender Erinnerung von „Lunaspina“ bis zum neuen Roman „Störgeräusch“. Geht es in deiner schriftstellerischen Arbeit um eine Form individueller Aufarbeitung ?

Biografische Motivationen sind kleine Schockerlebnisse. Sie können dann aber zum Teil aus dem fertigen Text wieder verschwinden und sind meist wirklich nur Anstöße zum Schreiben. Natürlich gibt es immer parallele Linien zu meiner Biografie. Aber es müssen sich schnell schon im Schreiben Räume öffnen, die ich mit meiner Phantasie betreten und ausleuchten kann.
Neben den biografischen gibt es Anregungen aus Lektüren: ein erster Anstoß zu „Störgeräusch“ war ein Text über Jean Cocteau, der in einem Interview gesagt hat: Die Technik ist das moderne Orakel. Drum nehmen in dem Buch die technischen Mittel der modernen Kommunikation einen breiten Raum ein (Telefon, Handy, Internet), dadurch ist es auch ein Buch über das Hören geworden. Beim Schreiben entwickeln sich bald bestimmte Leitmotive heraus, die zu einer Art Motor der Geschichte werden und die Handlung vorantreiben. Der Roboter aus der japanischen Zeichentrickserie, für Philipp Sinnbild seiner Kindheit, wird ein Nickname, Maske und Verkleidung, die Philipp sich zulegt, um seine erotischen Abgründe zu erforschen, zugleich kehrt das Bild von Mensch und Maschine beim Vater wieder, als Philipp von der bevorstehenden Herzoperation erfährt.
Die drei Bücher verstehe ich als eine kleine, bescheidene Trilogie mit dem autobiografischen Text „Nachtreise“ als Mittelstück. Es gibt durchgängige Themen, und doch sehe ich in dem neuen Buch eine starke Verschiebung der thematische Achse: nicht mehr Körper und Krankheit, sondern Körper und Eros. Ich glaube auch, dass sich eventuelle weitere Texte stärker letzterem Themenpaar zuwenden werden.

Gibt es literarische Vorbilder, die dich inspirieren oder dir einen stilistischen Weg weisen oder versuchst du, davon völlig frei zu bleiben?

Ich bin vor allem Leser und vielleicht weniger Autor. Aber ich lese als Autor: Mich interessieren die formalen Tricks, die andere Autoren anwenden, ich schaue beim Lesen, welche literarischen Mittel sie verwenden und welche Wirkung sie damit erzielen. Und ich bin ein leidenschaftlicher, aber sehr selektiver und westlich orientierter Leser: Ich liebe vor allem amerikanische Autoren, Carol Joyce Oates, Philip Roth, John Updike, Stewart O’Nan, Paul Auster. Bei Harold Brodkey habe ich zum Beispiel gelernt, dass jedes Thema literaturwürdig ist, es ist nur eine Frage, wie man das Thema formal gestaltet.
Die Selbstverständlichkeit, mit der schwule Erotik behandelt werden kann, ohne gleich die eigene Außenseiterposition mitreflektieren zu müssen, hab ich in den Romanen von Alan Hollinghurst gefunden. Diese Lektüreerfahrung war wie eine Befreiung: Ja, man kann so darüber schreiben.
Es gibt Schockerlebnisse auch im Lesen, die zu Schreibmotivationen werden können: bei Kazuo Ishiguros letztem Buch ist mir das passiert. Das hat mir gezeigt, wie man bloß mit einer bestimmten Perspektivenwahl einen ganz und gar verstörenden Effekt erzielen kann, sodass zum an der Oberfläche Erzählten ein total konträrer Subtext mitläuft. Lesen ist in der Tat ein spannendes Abenteuer!

Du verwendest große Sorgfalt auf die genaue Beschreibung eng umgrenzter Lebenskreise. Wie würdest du dem Vorwurf begegnen, dem Roman fehle es an „Weite“, oder die Perspektive sei zu „individualistisch“?

Ich stecke mir beim Schreiben kaum programmatische Ziele. Ich habe keine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Das Gesellschaftliche spielt in den Text hinein, wenn ich meine Figuren präzise in ihrem sozialen Kontext zu verorten versuche, wenn ich die Mentalität beschreibe, aus der heraus sie sprechen oder handeln. In ihren Ängsten tritt zutage, was für die Gesellschaft, in der sie leben, noch tolerierbar ist oder was nicht. Der Roman zeigt mehrere Perspektiven, lässt unterschiedliche Figuren erzählen, und er versucht nicht für eine Version Partei zu ergreifen. Und die Figuren selbst sind nicht auf Eindeutigkeit angelegt: Der Vater, der eine kleine innere Revolution durchmacht, fällt am Ende doch auch wieder in alte, stark konservative Denkmuster zurück.

Deinen Stil kennzeichnet , wie ich glaube, eine erstaunliche Detailschärfe, sowohl was Handlungselemente, als auch was Stimmungen und ganz allgemein Szenerien betrifft: wie wichtig ist für dich dieses „fotografische“ Gestalten im Schreibprozess?

Es geht mir darum, Glaubwürdigkeit und Stimmigkeit zu erzeugen. Vielleicht ist dies auch ein wichtiger Moment im Schreibprozess selbst. Würde ich meine Kulissen schnell hochziehen wie Bretterwände, sodass man sie sofort als Attrappen durchschaut, dann würde mich das schon im Laufe der ersten Niederschrift stark irritieren. Der Text käme mir flach und verlogen vor. Ich will nicht über Figuren und Szenerien hinwegfliegen, sondern ganz nah bei ihnen bleiben. Ich will Langsamkeit. Meine Figuren befinden sich in einer außergewöhnlichen psychischen Situation und über diese innere Zerrissenheit führe ich Protokoll.
Es geht mir auch um eine atmosphärische Dichte, die ich durch die Benennung von nebensächlichen Details erreiche. Gegenstände können eine wichtige Rolle im Leben spielen und eine gewisse Haltung und Einstellung verkörpern: So steckt die Knausrigkeit, die Philipp seinem Vater vorwirft, auch in dem Gasherd, der zugleich eine ganze Ehe zusammenfasst und für ein von Franz und Margareth geteiltes Ideal steht.

Du setzt häufig code-switches ein, die den Text irgendwo in einen lokalen Bezugsrahmen stellen. Ist dir diese „Verortung“ wichtig oder hat die Verwendung von Elementen der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit mehr textbezogene Gründe?

Es gibt im Roman nur wenige ausdrückliche Hinweise darüber, wo die Geschichte spielt. Aber aus den Andeutungen wird gleich klar, dass es der Südtiroler Raum ist. Darum ist diese Zweisprachigkeit vor allem eine geografisch bedingte Gegebenheit und es steckt keine besondere Schreibintention dahinter, diese Mehrsprachigkeit im Text anklingen zu lassen.
Andererseits hat Sprache hat auch eine erotische Dimension. In dieser Hinsicht teile ich Philipps Empfinden, dass die erotische Phantasie nicht unbedingt in der Muttersprache beheimatet sein muss. Auch ich finde das Italienische weit stimulierender.

Du sprichst in deinem neuen Werk sehr deutlich das Thema Homosexualität an: kann man „Störgeräusch“ auch als eine Art „Szeneroman“ lesen?

„Störgeräusch“ ist ein Buch über erotisches Verlangen, über Sexualität und nicht zuletzt über Liebe. Schon in den anderen beiden meiner Bücher war das Thema da. „Lunaspina“ folgt dem Schema eines Coming-Out-Romans und erzählt unter anderem die (homo)sexuelle Gewisswerdung des Protagonisten. In „Nachtreise“ ist das Thema durch die Todesthematik stark zurückgedrängt.
Es geht mir nicht um einen Tabubruch. Ich erzähle von Liebe und Sex zwischen Männern, weil mir diese Erfahrungswelt vertraut ist. Das heißt natürlich nicht, dass ich über die Grenzen meiner sexuellen Neigung hinaus, oder über die Grenzen meines biografischen Alters, keine Geschichten und Figuren entwerfen kann. Und abgesehen von einigen speziellen Facetten lassen sich die psychologische Dynamiken innerhalb eines gleichgeschlechtlichen Paares genau so gut auf ein heterosexuelles Paar übertragen. Es geht um Leidenschaft, um Macht, um Unterwerfung hier genauso wie dort.
Mich interessieren Szeneromane nur sehr bedingt. Von allem Anfang an wollte ich eine bestimmte Eingleisigkeit vermeiden: Ich erzähle zwei Geschichten in dem Buch, eine heterosexuelle und eine homosexuelle. Auf gar keinen Fall wollte ich Klischees verstärken, deshalb ist in „Störgeräusch“ die heterosexuelle jene von der Gesellschaft nicht akzeptierte. Und der „Bösewicht“ ist für mich der schwule Sohn und nicht der von seinem moralischen Thron gestürzte Vater. Dieser macht im Laufe der Geschichte auch eine größere innere Veränderung durch und ist die eigentlich „progressive“ Figur, während der Sohn in seinen konservativen Vorstellungen gefangen bleibt.

Welche Reaktionen hast Du bisher auf das Buch erfahren – und welche Reaktionen würdest du dir wünschen?

Ein veröffentlichtes Buch gehört nicht mehr dem Autor, sondern den Lesern. Und dennoch nimmt „Störgeräusch“ für mich einen besonderen Platz ein. Es ist ein weiterer Schritt in Richtung Fiktionalisierung, es ist charakterisiert durch das Ringen um eine bewusste Komposition, aber auch durch die Erweiterung meines thematischen Spektrums. Ich würde mir wünschen, dass einiges davon auch bei den Lesern so ankommt.

Verrätst du etwas von deinen neuen Projekten oder ist das noch „Verschlusssache“?

Ich habe an einer Reihe von Geschichten über die Kindheit gearbeitet, die miteinander eine Einheit, vielleicht eine Art Roman bilden. Sie handeln von Sein und Schein und vom Erwachen der Sexualität. Die ersten dieser Texte sind gleich nach „Lunaspina“ entstanden und die letzten im Laufe des vergangenen Schuljahres. Ironie spielt eine große Rolle in diesen Texten, die im selben Familienkosmos angesiedelt sind wie andere meiner Texte. Aber meine kreative Neugier ist über diese Sammlung bereits hinausgewachsen und möchte den großen Sprung versuchen, hinaus aus meiner bisherigen Erzählwelt.

Fragen: Bernhard Nussbaumer

21 August 2006

"Nachtreise" im Hörfunk

Rai Sender Bozen
am 2., 9., 16. und 23. September
Forum Literatur
20.15 bis 22.00 Uhr
Sprecher: Christoph Pichler

Die Passion des Pornographen














1 Frühe Lektüren

Aufklärungsunterricht erteilt mir der Großmeister des Horrors persönlich. Als Oberschüler lese ich mich durch die seitenstarken Wälzer von Stephen King und genieße die Zeremonien der Schlächter, die sich an schönen Körpern gütlich tun. Einen Fuß in die Tür der Guten kriegt das Böse immer durch sexuelle Verlockung. Und so sauge ich gierig in mich auf, was in meiner sonstigen Jungenwelt nie zur Sprache kommt, den ganzen Höllenkatalog fleischlicher Sünden.
Als noch unberührter junger Mann lese ich die Bücher der literarischen Sexmaniacs: Henry Miller und Philip Roth. In der Schule hingegen gebe ich mich frauenbewegt und lege geschickt die Rowohlt-Bändchen neue frau vor die Augen der Lehrer. Mein Lieblingstitel ist Märta Tikkanens Wie vergewaltige ich einen Mann.
In der Bozner Tessman-Bibliothek finde ich ein Buch, das gleich auf der ersten Seite eine Warnung enthält: Dieses Buch darf wegen des Inhaltes nicht an Jugendliche weitergegeben werden und sollte abgeschlossen aufbewahrt werden. Ich schwanke zwischen ungläubigem Staunen und gläubiger Erregung, dass es das wirklich gibt: ein verbotenes Buch. Als wäre mir auf der Oswaldpromenade plötzlich ein Einhorn begegnet. In der Tat, Literatur ist gefährlich, sie trifft direkt ins Herz und auch anderswohin. Jean Genets Querelle eröffnet mir neue literarische Horizonte und nimmt sexuelle Gewissheiten vorweg, die ich erst später gewinnen werde: nämlich dass auch ich von diesen muskulösen Matrosen und abgerissenen Dieben mehr angezogen bin als von jedem anderen Schlag Mann. Diese gefallenen Engel, wie sie später von der Titan-Pornotraumfabrik auf Video gebannt werden.
Der eigentliche Film zum Buch aber ist von Rainer Werner Fassbinder und läuft auf ORF 2 in der Sendung Kunststücke. Am selben Sendeplatz finde ich weitere schwule Filmleckerbissen, Derek Jarmans Caravaggio und E. M. Forsters Romanverfilmung Maurice. Leider haben gute Kulturprogramme im Fernsehen immer nur ein kurzes Leben und ich werde von den ORF-Programmchefs bald um meinen Bildergenuss zu spätabendlicher Stunde gebracht.
(Eine der ersten Wahrnehmungen, dass meine Libido auf Abwegen wandelt, findet viel früher statt und verdankt sich dem nachmittäglichen Kinderprogramm. In einer Folge von Löwenzahn will uns Peter Lustig eine besondere Fabrik zeigen und er zieht dafür einen Sicherheitsanzug an. Aber kurz davor kommt sein praller Hintern ins Bild. Ich bin erschrocken und erregt zugleich, und dann erschrocken über meine Erregung.)
Ich lese und verliebe mich. Ich gehe die Szenen meiner Liebe wieder und wieder in Gedanken durch. Es ist nicht meine Geschichte, sondern die der Figuren in einem Roman, Giovannis Zimmer zum Beispiel von James Baldwin. So will ich es auch haben: hoffnungslos dieser Liebe ausgeliefert sein und von der Gesellschaft dauernd Prügel vor die Füße geworfen bekommen. Natürlich bin ich kein Schwarzer in Amerika, der durch sein Schwulsein eine Minderheit in der Minderheit ist, aber dafür Südtiroler, und das trifft es ja so ähnlich.

2 Schreibversuche

In meinen ersten Schreibversuchen wimmelt es von Vampiren, Werwölfen und sonstigen ekligen Phantasiewesen: Sie sind tentakelbewehrt und sondern glibberige Flüssigkeiten ab. Freud hätte seine wahre Freude daran gehabt. Meine ersten Leserinnen auch, zu meinem Unglück verfügen sie über hobbypsychologische Kenntnisse und breiten diese mir auch wortreich aus. Ich bin etwas gekränkt, es geht hier ja nicht um Tagebuchschreiben, sondern um Südtirols Antwort auf Stephen King.
Zu meiner Unizeit wechsle ich vom U- ins E-Fach. Als Leser entwöhne ich mich schrittweise meiner Jugendsünden und so werden Heyne- und Bastei-Lübbe-Bändchen mit der Zeit von Luchterhand und Suhrkamp verdrängt. Bei meinen Eroberungsversuchen greife ich auf hausgemachte Texte zurück, um einen Trumpf mehr in der Tasche zu haben. Einer Studentin gebe ich eine Kurzgeschichte zu lesen, sie nagelt mich an dem letzten Satz fest: Ihm schien, als wollte sie etwas von ihm. Sie schließt von der Figur im Text direkt auf den jungen Schreiber. Und sie schlüpft in die Haut der weiblichen Figur: Meinst du das nun positiv, dass sie etwas von ihm will oder nicht?
Ja, wie meine ich das? Ich will mich dieser Frage nicht stellen und verüble der Freundin diesen germanistisch unzulässigen Sprung von einem Text mitten hinein ins komplizierte Gefühlsgewebe des Autors.
Diesmal entgeht es meinen freudbewanderten Leserinnen: In meinen Texten tauchen nach und nach attraktive junge Männer auf, um die ich einen barocken Verbalzirkus veranstalte, doch der ganze epische Aufstand verliert sich im Nichts. Denn trotz des Heißhungers, mit dem ich die Werke der großen Erotomanen verschlinge, bin ich sexuell – und was die wichtigen Dinge im Leben angeht - immer noch gänzlich unberührt.

3 Spätzünder

Nach der Motivation für sein Schreiben befragt, antwortet David Leavitt in einem Interview, das mir als Zwanzigjähriger zufällig in die Hände fällt: Ich wollte die Bücher schreiben, die ich gerne gelesen hätte, als ich jung war, die ich aber in keiner Bibliothek und in keinem Buchladen finden konnte. Das ist es, denke ich mir und hege eine neue große Ambition, ich will Pioniersarbeit leisten und einen schwulen Roman schreiben, der vor Südtiroler Kulisse spielt. Damit werde ich nicht nur mich selbst aus der Misere meiner sexuellen Neutralität hieven, sondern andere, ebenso hilfs- und identifikationsbedürftige gleich mit. Die Südtiroler Welt wird staunen und mir den geringen Makel meiner sexuellen Neigung nachsehen. Hinter der Maske des Schriftstellers lässt es sich ungestraft schwul sein. Er ist ein Künstler, werden die Leute entschuldigen und dabei einander zuzwinkern.
Dass ich wie Karl May in seiner Gefängniszelle vom Wilden Westen nur träume, ohne je dort gewesen zu sein, unterschlage ich vor mir selbst.
Für meine Generation genügt kein Mouseklick auf die blauen Seiten von Gayromeo, um zu sehen, dass man nicht allein am anderen Ufer Südtirols online ist. Verbindung herstellen heißt, aus der Anonymität ausbrechen und sein Gesicht zeigen. Was Schrecken genug ist. Meine ersten vorsichtigen Schritte in schwules Hoheitsgebiet verdanke ich der neofaschistischen Partei MSI, die grad, als ich Kontakt brauche, einen ihrer Parteimitglieder wegen homosexueller Neigung ausschließt und so den Anstoß gibt für eine Artikelserie in der FF. Am Kiosk verlange ich mit zittriger Stimme nach der Wochenzeitung mit dem knalligen Cover: der innige Kuss zweier Männer.
Inzwischen fast fünfundzwanzig, stürzen all meine Kopfgerüste ein und mein planloses Schreiben gerät in ein heilsames Stocken. Sogar für meine Lesepassion finde ich weniger Zeit. Ich habe zu tun, ich hole Leben nach. Ich verliebe mich, diesmal ohne literarisches Skript und nicht bloß in meiner Imagination. Es ist wunderbar und grausam zugleich, aber vor allem ganz einfach: der stärkste Rausch, den das irdische Dasein zu bieten hat. Ich genieße, ich leide, ich werfe kurzerhand all meine Schreiberambitionen über Bord, wozu brauche ich das jetzt noch. Ich habe was Besseres gefunden.

4 Die letzte Bastion

Schließlich geht mein kleiner Autorentraum doch in Erfüllung. Zu meinem Erstling Lunaspina steht im Katalog der schwulen Buchläden: Aus den exotischsten Ländern der Welt erschienen in den letzten Jahren Bücher mit schwuler Thematik, doch nun ist die letzte Bastion gefallen: Südtirol! Andere begegnen dieser Pioniersleistung mit weit geringerer Begeisterung. Als mein Vater auf dem Grieser Platz an der Bäckertheke um Brot ansteht, spricht ihn eine Frau an: Jetzt hab ich das Buch von deinem Bub gelesen, das hätte aber nicht sein müssen!, meint sie entrüstet. Mein Vater tritt die Flucht nach vorne an: Ja, ja, mein Sohn mit seiner Pornographie!

5 Der verstoßene Sohn

Seit dem Tod meiner Mutter leben Vater und ich Wohnung an Wohnung. Das Frühstück nehme ich noch lange Zeit am Tischplatz meines Vaters ein, von dem aus ich einen wunderbaren Blick durch die Terrassentürscheibe auf unsere Straße habe. Bis mich mein Vater eines Tages aus seiner Wohnung wirft: Wenn ich weiblichen Besuch habe, will ich dich hier nicht haben. Ich gehe auch nicht in deine Wohnung, wenn du mit deinem Freund dort bist. Einen Augenblick lang mime ich den verstoßenen Sohn, dann erkenne ich, dass ich im Unrecht bin.
Glücklich verliebt, aber auch den missbilligenden Blicken anderer Leute ausgesetzt, weil er so kurz nach Mutters Tod wieder eine neue Beziehung eingegangen ist, bekennt mein Vater: Du hast es vorgemacht, wie man seinen eigenen Weg gehen muss, du bist mutig gewesen. Ich könnte meinem Vater Coming-Out-Tipps geben, wir haben die Rollen getauscht, er ist plötzlich der verliebte Teenager und ich ein väterlicher Ratgeber.
Dennoch: Dass sich das Thema Homosexualität wie ein roter Faden durch meine Texte zieht, findet nicht ganz seine Zustimmung. Nach Ansicht meines Vaters ist das ein Minderheitenprogramm, weil es nur ein unerhebliches Zielpublikum erreicht. Das ist nicht der Stoff, aus dem Bestseller gemacht sind! Und ich denke an die Großen in meinem Fach: Wenn ein von mir verehrter John Updike dem ebenfalls von mir hoch geschätzten Alan Hollinghurst vorwirft, in seinem Buch gehe es dauernd nur um schwulen Sex, so macht dieser Vorwurf umgekehrt keinen Sinn.
Aber mein Vater ahnt nichts von diesen Ungerechtigkeiten. Sein Kanon umfasst im Grunde nur ein einziges Buch: Die Beschreibung von Kannibalismus und seriell wiederkehrenden Mordgelüsten in Das Parfum trüben in ihm kein Wässerchen, aber in der deskriptiven Genauigkeit gleichgeschlechtlicher Vorgänge sieht er ein krummes Spiel mit dem Voyeurismus des Publikums. Aber eigentlich hat er seinen Sohn literarisch schon verloren gegeben, bald wird er selbst zur Feder greifen und mit seinem funkelnden Stil dem thematisch monotonen Junior-Schreiberling den Gnadenstoß versetzen.

18 August 2006

Autobiographie kann jeder

Die Geschichten meines Sohnes beginnen alle gleich, sagt mein Vater und seufzt über sein schweres Amt, stets als Ideen- und Sprachlieferant herhalten zu müssen.
Mein Vater hält sich für den besseren Schriftsteller, den nur irgendwelche Dringlichkeiten stets vom Schreiben abgehalten haben. Er ist besser gerüstet für dieses Metier, vor allem meint er damit, dass er über eine publikumswirksamere Themenvielfalt verfügt. Sollte der Vater einmal tatsächlich zur Feder greifen, dann kann der Sohn einpacken mit seiner blassen Literatur, dessen ist er gewiss.
Zwischendurch begegnet mein Vater bei seinen morgendlichen Einkaufsrunden einer meiner Leserinnen. Sofort tritt er die Flucht nach vorne an: Er habe nichts unversucht gelassen, um dem Sohn die pornografischen Flausen auszutreiben. Auf sein Konto gehe diese niedere Poetik nicht! Er werde, schwört er vor dieser Zeugin wider Willen, zu drastischen Mitteln greifen und den literarischen Spielereien die finanzielle Grundlage entziehen. Das sei nämlich überhaupt das Unverschämte an der ganzen Sache, dass der Finanzstrom immer noch von ihm zu den Söhnen fließe und nicht in die Gegenrichtung. Dabei hatte er doch gehofft, dass sich diese langjährige, kostspielige Investition in den Nachwuchs einmal lohnen könnte.
Mein Vater sieht sich als wachsamer Hüter der Tabus. Genau so stellte er sich als der autoritäre Pädagoge dar, dem nur meine Mutter mit ihrer Weichherzigkeit einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Vaters unerbittlicher Erziehungsstock ist ein erfundenes Requisit. So wie er in flinken Umrissen eine Vaterfigur entwirft, die er in Wahrheit nie verkörpert hat. Seine Zuhörerin schwankt zwischen Belustigung und Bestürzung, sie weiß nicht, soll sie ihn beim Wort nehmen oder nicht. Vater flunkert, springt mühelos von Mimesis zu Poesis. Dem Sohn hingegen traut er dieses Kunststück nicht zu. Bei deinen Büchern erkennt man auf den ersten Blick den ganzen Schwindel: Das ist alles autobiografisch, urteilt er und meint damit: Autobiografie ist keine Kunst, Autobiographie kann schließlich jeder.