21 August 2006

Die Passion des Pornographen














1 Frühe Lektüren

Aufklärungsunterricht erteilt mir der Großmeister des Horrors persönlich. Als Oberschüler lese ich mich durch die seitenstarken Wälzer von Stephen King und genieße die Zeremonien der Schlächter, die sich an schönen Körpern gütlich tun. Einen Fuß in die Tür der Guten kriegt das Böse immer durch sexuelle Verlockung. Und so sauge ich gierig in mich auf, was in meiner sonstigen Jungenwelt nie zur Sprache kommt, den ganzen Höllenkatalog fleischlicher Sünden.
Als noch unberührter junger Mann lese ich die Bücher der literarischen Sexmaniacs: Henry Miller und Philip Roth. In der Schule hingegen gebe ich mich frauenbewegt und lege geschickt die Rowohlt-Bändchen neue frau vor die Augen der Lehrer. Mein Lieblingstitel ist Märta Tikkanens Wie vergewaltige ich einen Mann.
In der Bozner Tessman-Bibliothek finde ich ein Buch, das gleich auf der ersten Seite eine Warnung enthält: Dieses Buch darf wegen des Inhaltes nicht an Jugendliche weitergegeben werden und sollte abgeschlossen aufbewahrt werden. Ich schwanke zwischen ungläubigem Staunen und gläubiger Erregung, dass es das wirklich gibt: ein verbotenes Buch. Als wäre mir auf der Oswaldpromenade plötzlich ein Einhorn begegnet. In der Tat, Literatur ist gefährlich, sie trifft direkt ins Herz und auch anderswohin. Jean Genets Querelle eröffnet mir neue literarische Horizonte und nimmt sexuelle Gewissheiten vorweg, die ich erst später gewinnen werde: nämlich dass auch ich von diesen muskulösen Matrosen und abgerissenen Dieben mehr angezogen bin als von jedem anderen Schlag Mann. Diese gefallenen Engel, wie sie später von der Titan-Pornotraumfabrik auf Video gebannt werden.
Der eigentliche Film zum Buch aber ist von Rainer Werner Fassbinder und läuft auf ORF 2 in der Sendung Kunststücke. Am selben Sendeplatz finde ich weitere schwule Filmleckerbissen, Derek Jarmans Caravaggio und E. M. Forsters Romanverfilmung Maurice. Leider haben gute Kulturprogramme im Fernsehen immer nur ein kurzes Leben und ich werde von den ORF-Programmchefs bald um meinen Bildergenuss zu spätabendlicher Stunde gebracht.
(Eine der ersten Wahrnehmungen, dass meine Libido auf Abwegen wandelt, findet viel früher statt und verdankt sich dem nachmittäglichen Kinderprogramm. In einer Folge von Löwenzahn will uns Peter Lustig eine besondere Fabrik zeigen und er zieht dafür einen Sicherheitsanzug an. Aber kurz davor kommt sein praller Hintern ins Bild. Ich bin erschrocken und erregt zugleich, und dann erschrocken über meine Erregung.)
Ich lese und verliebe mich. Ich gehe die Szenen meiner Liebe wieder und wieder in Gedanken durch. Es ist nicht meine Geschichte, sondern die der Figuren in einem Roman, Giovannis Zimmer zum Beispiel von James Baldwin. So will ich es auch haben: hoffnungslos dieser Liebe ausgeliefert sein und von der Gesellschaft dauernd Prügel vor die Füße geworfen bekommen. Natürlich bin ich kein Schwarzer in Amerika, der durch sein Schwulsein eine Minderheit in der Minderheit ist, aber dafür Südtiroler, und das trifft es ja so ähnlich.

2 Schreibversuche

In meinen ersten Schreibversuchen wimmelt es von Vampiren, Werwölfen und sonstigen ekligen Phantasiewesen: Sie sind tentakelbewehrt und sondern glibberige Flüssigkeiten ab. Freud hätte seine wahre Freude daran gehabt. Meine ersten Leserinnen auch, zu meinem Unglück verfügen sie über hobbypsychologische Kenntnisse und breiten diese mir auch wortreich aus. Ich bin etwas gekränkt, es geht hier ja nicht um Tagebuchschreiben, sondern um Südtirols Antwort auf Stephen King.
Zu meiner Unizeit wechsle ich vom U- ins E-Fach. Als Leser entwöhne ich mich schrittweise meiner Jugendsünden und so werden Heyne- und Bastei-Lübbe-Bändchen mit der Zeit von Luchterhand und Suhrkamp verdrängt. Bei meinen Eroberungsversuchen greife ich auf hausgemachte Texte zurück, um einen Trumpf mehr in der Tasche zu haben. Einer Studentin gebe ich eine Kurzgeschichte zu lesen, sie nagelt mich an dem letzten Satz fest: Ihm schien, als wollte sie etwas von ihm. Sie schließt von der Figur im Text direkt auf den jungen Schreiber. Und sie schlüpft in die Haut der weiblichen Figur: Meinst du das nun positiv, dass sie etwas von ihm will oder nicht?
Ja, wie meine ich das? Ich will mich dieser Frage nicht stellen und verüble der Freundin diesen germanistisch unzulässigen Sprung von einem Text mitten hinein ins komplizierte Gefühlsgewebe des Autors.
Diesmal entgeht es meinen freudbewanderten Leserinnen: In meinen Texten tauchen nach und nach attraktive junge Männer auf, um die ich einen barocken Verbalzirkus veranstalte, doch der ganze epische Aufstand verliert sich im Nichts. Denn trotz des Heißhungers, mit dem ich die Werke der großen Erotomanen verschlinge, bin ich sexuell – und was die wichtigen Dinge im Leben angeht - immer noch gänzlich unberührt.

3 Spätzünder

Nach der Motivation für sein Schreiben befragt, antwortet David Leavitt in einem Interview, das mir als Zwanzigjähriger zufällig in die Hände fällt: Ich wollte die Bücher schreiben, die ich gerne gelesen hätte, als ich jung war, die ich aber in keiner Bibliothek und in keinem Buchladen finden konnte. Das ist es, denke ich mir und hege eine neue große Ambition, ich will Pioniersarbeit leisten und einen schwulen Roman schreiben, der vor Südtiroler Kulisse spielt. Damit werde ich nicht nur mich selbst aus der Misere meiner sexuellen Neutralität hieven, sondern andere, ebenso hilfs- und identifikationsbedürftige gleich mit. Die Südtiroler Welt wird staunen und mir den geringen Makel meiner sexuellen Neigung nachsehen. Hinter der Maske des Schriftstellers lässt es sich ungestraft schwul sein. Er ist ein Künstler, werden die Leute entschuldigen und dabei einander zuzwinkern.
Dass ich wie Karl May in seiner Gefängniszelle vom Wilden Westen nur träume, ohne je dort gewesen zu sein, unterschlage ich vor mir selbst.
Für meine Generation genügt kein Mouseklick auf die blauen Seiten von Gayromeo, um zu sehen, dass man nicht allein am anderen Ufer Südtirols online ist. Verbindung herstellen heißt, aus der Anonymität ausbrechen und sein Gesicht zeigen. Was Schrecken genug ist. Meine ersten vorsichtigen Schritte in schwules Hoheitsgebiet verdanke ich der neofaschistischen Partei MSI, die grad, als ich Kontakt brauche, einen ihrer Parteimitglieder wegen homosexueller Neigung ausschließt und so den Anstoß gibt für eine Artikelserie in der FF. Am Kiosk verlange ich mit zittriger Stimme nach der Wochenzeitung mit dem knalligen Cover: der innige Kuss zweier Männer.
Inzwischen fast fünfundzwanzig, stürzen all meine Kopfgerüste ein und mein planloses Schreiben gerät in ein heilsames Stocken. Sogar für meine Lesepassion finde ich weniger Zeit. Ich habe zu tun, ich hole Leben nach. Ich verliebe mich, diesmal ohne literarisches Skript und nicht bloß in meiner Imagination. Es ist wunderbar und grausam zugleich, aber vor allem ganz einfach: der stärkste Rausch, den das irdische Dasein zu bieten hat. Ich genieße, ich leide, ich werfe kurzerhand all meine Schreiberambitionen über Bord, wozu brauche ich das jetzt noch. Ich habe was Besseres gefunden.

4 Die letzte Bastion

Schließlich geht mein kleiner Autorentraum doch in Erfüllung. Zu meinem Erstling Lunaspina steht im Katalog der schwulen Buchläden: Aus den exotischsten Ländern der Welt erschienen in den letzten Jahren Bücher mit schwuler Thematik, doch nun ist die letzte Bastion gefallen: Südtirol! Andere begegnen dieser Pioniersleistung mit weit geringerer Begeisterung. Als mein Vater auf dem Grieser Platz an der Bäckertheke um Brot ansteht, spricht ihn eine Frau an: Jetzt hab ich das Buch von deinem Bub gelesen, das hätte aber nicht sein müssen!, meint sie entrüstet. Mein Vater tritt die Flucht nach vorne an: Ja, ja, mein Sohn mit seiner Pornographie!

5 Der verstoßene Sohn

Seit dem Tod meiner Mutter leben Vater und ich Wohnung an Wohnung. Das Frühstück nehme ich noch lange Zeit am Tischplatz meines Vaters ein, von dem aus ich einen wunderbaren Blick durch die Terrassentürscheibe auf unsere Straße habe. Bis mich mein Vater eines Tages aus seiner Wohnung wirft: Wenn ich weiblichen Besuch habe, will ich dich hier nicht haben. Ich gehe auch nicht in deine Wohnung, wenn du mit deinem Freund dort bist. Einen Augenblick lang mime ich den verstoßenen Sohn, dann erkenne ich, dass ich im Unrecht bin.
Glücklich verliebt, aber auch den missbilligenden Blicken anderer Leute ausgesetzt, weil er so kurz nach Mutters Tod wieder eine neue Beziehung eingegangen ist, bekennt mein Vater: Du hast es vorgemacht, wie man seinen eigenen Weg gehen muss, du bist mutig gewesen. Ich könnte meinem Vater Coming-Out-Tipps geben, wir haben die Rollen getauscht, er ist plötzlich der verliebte Teenager und ich ein väterlicher Ratgeber.
Dennoch: Dass sich das Thema Homosexualität wie ein roter Faden durch meine Texte zieht, findet nicht ganz seine Zustimmung. Nach Ansicht meines Vaters ist das ein Minderheitenprogramm, weil es nur ein unerhebliches Zielpublikum erreicht. Das ist nicht der Stoff, aus dem Bestseller gemacht sind! Und ich denke an die Großen in meinem Fach: Wenn ein von mir verehrter John Updike dem ebenfalls von mir hoch geschätzten Alan Hollinghurst vorwirft, in seinem Buch gehe es dauernd nur um schwulen Sex, so macht dieser Vorwurf umgekehrt keinen Sinn.
Aber mein Vater ahnt nichts von diesen Ungerechtigkeiten. Sein Kanon umfasst im Grunde nur ein einziges Buch: Die Beschreibung von Kannibalismus und seriell wiederkehrenden Mordgelüsten in Das Parfum trüben in ihm kein Wässerchen, aber in der deskriptiven Genauigkeit gleichgeschlechtlicher Vorgänge sieht er ein krummes Spiel mit dem Voyeurismus des Publikums. Aber eigentlich hat er seinen Sohn literarisch schon verloren gegeben, bald wird er selbst zur Feder greifen und mit seinem funkelnden Stil dem thematisch monotonen Junior-Schreiberling den Gnadenstoß versetzen.