30 August 2006

Fragen zum "Störgeräusch"

Du entwickelst dich im neuen Roman zusehends zu einem sehr genauen Analytiker von Beziehungsverflechtungen: was fasziniert dich an komplizierten Beziehungssituationen?

Familie ist ein spannendes Beziehungsfeld. Nirgendwo sonst gibt es soviel Nähe und Vertrautheit, aber zugleich auch Fremdheit und Distanz. In „Störgeräusch“ sind die beiden Protagonisten durch den Tod der Mutter gezwungen, ihre Rolle im familiären Gefüge neu zu definieren. Damit tun sich beide schwer.
Andererseits treten nach der erschütternden Erfahrung des Verlusts eruptiv Sehnsüchte und Obsessionen an die Oberfläche, die vorher unter dem Schutt eines angepassten oder von Notwendigkeiten geregelten Lebens verborgen geblieben waren.
Die Situationen, die ich schildere, sind alltäglich und doch versuche ich sie zuzuspitzen, um dem Geschehen eine gewisse Intensität zu geben, um den Text mit Spannung aufzuladen. Worauf es mir ankommt, ist das Geflecht. Auf dasselbe Geschehen werfen verschiedene Figuren einen unterschiedlichen Blick, sie deuten die Ereignisse jeweils anders, denn ihre Optik ist begrenzt. Doch auch die Anschauungen der einzelnen Figuren verändern sich im Laufe des Romans. Mich interessieren die Bruchlinien, die Widersprüche und Zögerlichkeiten meiner Figuren, natürlich geht dies auf Kosten einer temporeichen äußeren Handlung.

Man hat den Eindruck, dass hinter deinen bisherigen Veröffentlichungen jeweils biografische Schreibanlässe stehen. Insofern sehe ich – auch literarisch – eine Kette fortlaufender Erinnerung von „Lunaspina“ bis zum neuen Roman „Störgeräusch“. Geht es in deiner schriftstellerischen Arbeit um eine Form individueller Aufarbeitung ?

Biografische Motivationen sind kleine Schockerlebnisse. Sie können dann aber zum Teil aus dem fertigen Text wieder verschwinden und sind meist wirklich nur Anstöße zum Schreiben. Natürlich gibt es immer parallele Linien zu meiner Biografie. Aber es müssen sich schnell schon im Schreiben Räume öffnen, die ich mit meiner Phantasie betreten und ausleuchten kann.
Neben den biografischen gibt es Anregungen aus Lektüren: ein erster Anstoß zu „Störgeräusch“ war ein Text über Jean Cocteau, der in einem Interview gesagt hat: Die Technik ist das moderne Orakel. Drum nehmen in dem Buch die technischen Mittel der modernen Kommunikation einen breiten Raum ein (Telefon, Handy, Internet), dadurch ist es auch ein Buch über das Hören geworden. Beim Schreiben entwickeln sich bald bestimmte Leitmotive heraus, die zu einer Art Motor der Geschichte werden und die Handlung vorantreiben. Der Roboter aus der japanischen Zeichentrickserie, für Philipp Sinnbild seiner Kindheit, wird ein Nickname, Maske und Verkleidung, die Philipp sich zulegt, um seine erotischen Abgründe zu erforschen, zugleich kehrt das Bild von Mensch und Maschine beim Vater wieder, als Philipp von der bevorstehenden Herzoperation erfährt.
Die drei Bücher verstehe ich als eine kleine, bescheidene Trilogie mit dem autobiografischen Text „Nachtreise“ als Mittelstück. Es gibt durchgängige Themen, und doch sehe ich in dem neuen Buch eine starke Verschiebung der thematische Achse: nicht mehr Körper und Krankheit, sondern Körper und Eros. Ich glaube auch, dass sich eventuelle weitere Texte stärker letzterem Themenpaar zuwenden werden.

Gibt es literarische Vorbilder, die dich inspirieren oder dir einen stilistischen Weg weisen oder versuchst du, davon völlig frei zu bleiben?

Ich bin vor allem Leser und vielleicht weniger Autor. Aber ich lese als Autor: Mich interessieren die formalen Tricks, die andere Autoren anwenden, ich schaue beim Lesen, welche literarischen Mittel sie verwenden und welche Wirkung sie damit erzielen. Und ich bin ein leidenschaftlicher, aber sehr selektiver und westlich orientierter Leser: Ich liebe vor allem amerikanische Autoren, Carol Joyce Oates, Philip Roth, John Updike, Stewart O’Nan, Paul Auster. Bei Harold Brodkey habe ich zum Beispiel gelernt, dass jedes Thema literaturwürdig ist, es ist nur eine Frage, wie man das Thema formal gestaltet.
Die Selbstverständlichkeit, mit der schwule Erotik behandelt werden kann, ohne gleich die eigene Außenseiterposition mitreflektieren zu müssen, hab ich in den Romanen von Alan Hollinghurst gefunden. Diese Lektüreerfahrung war wie eine Befreiung: Ja, man kann so darüber schreiben.
Es gibt Schockerlebnisse auch im Lesen, die zu Schreibmotivationen werden können: bei Kazuo Ishiguros letztem Buch ist mir das passiert. Das hat mir gezeigt, wie man bloß mit einer bestimmten Perspektivenwahl einen ganz und gar verstörenden Effekt erzielen kann, sodass zum an der Oberfläche Erzählten ein total konträrer Subtext mitläuft. Lesen ist in der Tat ein spannendes Abenteuer!

Du verwendest große Sorgfalt auf die genaue Beschreibung eng umgrenzter Lebenskreise. Wie würdest du dem Vorwurf begegnen, dem Roman fehle es an „Weite“, oder die Perspektive sei zu „individualistisch“?

Ich stecke mir beim Schreiben kaum programmatische Ziele. Ich habe keine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Das Gesellschaftliche spielt in den Text hinein, wenn ich meine Figuren präzise in ihrem sozialen Kontext zu verorten versuche, wenn ich die Mentalität beschreibe, aus der heraus sie sprechen oder handeln. In ihren Ängsten tritt zutage, was für die Gesellschaft, in der sie leben, noch tolerierbar ist oder was nicht. Der Roman zeigt mehrere Perspektiven, lässt unterschiedliche Figuren erzählen, und er versucht nicht für eine Version Partei zu ergreifen. Und die Figuren selbst sind nicht auf Eindeutigkeit angelegt: Der Vater, der eine kleine innere Revolution durchmacht, fällt am Ende doch auch wieder in alte, stark konservative Denkmuster zurück.

Deinen Stil kennzeichnet , wie ich glaube, eine erstaunliche Detailschärfe, sowohl was Handlungselemente, als auch was Stimmungen und ganz allgemein Szenerien betrifft: wie wichtig ist für dich dieses „fotografische“ Gestalten im Schreibprozess?

Es geht mir darum, Glaubwürdigkeit und Stimmigkeit zu erzeugen. Vielleicht ist dies auch ein wichtiger Moment im Schreibprozess selbst. Würde ich meine Kulissen schnell hochziehen wie Bretterwände, sodass man sie sofort als Attrappen durchschaut, dann würde mich das schon im Laufe der ersten Niederschrift stark irritieren. Der Text käme mir flach und verlogen vor. Ich will nicht über Figuren und Szenerien hinwegfliegen, sondern ganz nah bei ihnen bleiben. Ich will Langsamkeit. Meine Figuren befinden sich in einer außergewöhnlichen psychischen Situation und über diese innere Zerrissenheit führe ich Protokoll.
Es geht mir auch um eine atmosphärische Dichte, die ich durch die Benennung von nebensächlichen Details erreiche. Gegenstände können eine wichtige Rolle im Leben spielen und eine gewisse Haltung und Einstellung verkörpern: So steckt die Knausrigkeit, die Philipp seinem Vater vorwirft, auch in dem Gasherd, der zugleich eine ganze Ehe zusammenfasst und für ein von Franz und Margareth geteiltes Ideal steht.

Du setzt häufig code-switches ein, die den Text irgendwo in einen lokalen Bezugsrahmen stellen. Ist dir diese „Verortung“ wichtig oder hat die Verwendung von Elementen der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit mehr textbezogene Gründe?

Es gibt im Roman nur wenige ausdrückliche Hinweise darüber, wo die Geschichte spielt. Aber aus den Andeutungen wird gleich klar, dass es der Südtiroler Raum ist. Darum ist diese Zweisprachigkeit vor allem eine geografisch bedingte Gegebenheit und es steckt keine besondere Schreibintention dahinter, diese Mehrsprachigkeit im Text anklingen zu lassen.
Andererseits hat Sprache hat auch eine erotische Dimension. In dieser Hinsicht teile ich Philipps Empfinden, dass die erotische Phantasie nicht unbedingt in der Muttersprache beheimatet sein muss. Auch ich finde das Italienische weit stimulierender.

Du sprichst in deinem neuen Werk sehr deutlich das Thema Homosexualität an: kann man „Störgeräusch“ auch als eine Art „Szeneroman“ lesen?

„Störgeräusch“ ist ein Buch über erotisches Verlangen, über Sexualität und nicht zuletzt über Liebe. Schon in den anderen beiden meiner Bücher war das Thema da. „Lunaspina“ folgt dem Schema eines Coming-Out-Romans und erzählt unter anderem die (homo)sexuelle Gewisswerdung des Protagonisten. In „Nachtreise“ ist das Thema durch die Todesthematik stark zurückgedrängt.
Es geht mir nicht um einen Tabubruch. Ich erzähle von Liebe und Sex zwischen Männern, weil mir diese Erfahrungswelt vertraut ist. Das heißt natürlich nicht, dass ich über die Grenzen meiner sexuellen Neigung hinaus, oder über die Grenzen meines biografischen Alters, keine Geschichten und Figuren entwerfen kann. Und abgesehen von einigen speziellen Facetten lassen sich die psychologische Dynamiken innerhalb eines gleichgeschlechtlichen Paares genau so gut auf ein heterosexuelles Paar übertragen. Es geht um Leidenschaft, um Macht, um Unterwerfung hier genauso wie dort.
Mich interessieren Szeneromane nur sehr bedingt. Von allem Anfang an wollte ich eine bestimmte Eingleisigkeit vermeiden: Ich erzähle zwei Geschichten in dem Buch, eine heterosexuelle und eine homosexuelle. Auf gar keinen Fall wollte ich Klischees verstärken, deshalb ist in „Störgeräusch“ die heterosexuelle jene von der Gesellschaft nicht akzeptierte. Und der „Bösewicht“ ist für mich der schwule Sohn und nicht der von seinem moralischen Thron gestürzte Vater. Dieser macht im Laufe der Geschichte auch eine größere innere Veränderung durch und ist die eigentlich „progressive“ Figur, während der Sohn in seinen konservativen Vorstellungen gefangen bleibt.

Welche Reaktionen hast Du bisher auf das Buch erfahren – und welche Reaktionen würdest du dir wünschen?

Ein veröffentlichtes Buch gehört nicht mehr dem Autor, sondern den Lesern. Und dennoch nimmt „Störgeräusch“ für mich einen besonderen Platz ein. Es ist ein weiterer Schritt in Richtung Fiktionalisierung, es ist charakterisiert durch das Ringen um eine bewusste Komposition, aber auch durch die Erweiterung meines thematischen Spektrums. Ich würde mir wünschen, dass einiges davon auch bei den Lesern so ankommt.

Verrätst du etwas von deinen neuen Projekten oder ist das noch „Verschlusssache“?

Ich habe an einer Reihe von Geschichten über die Kindheit gearbeitet, die miteinander eine Einheit, vielleicht eine Art Roman bilden. Sie handeln von Sein und Schein und vom Erwachen der Sexualität. Die ersten dieser Texte sind gleich nach „Lunaspina“ entstanden und die letzten im Laufe des vergangenen Schuljahres. Ironie spielt eine große Rolle in diesen Texten, die im selben Familienkosmos angesiedelt sind wie andere meiner Texte. Aber meine kreative Neugier ist über diese Sammlung bereits hinausgewachsen und möchte den großen Sprung versuchen, hinaus aus meiner bisherigen Erzählwelt.

Fragen: Bernhard Nussbaumer